Mit der Fama taucht zum ersten Mal in Deinem Werk ein Wahrzeichen Dresdens auf, Bill. Zufall oder längst überfällige Hinwendung?
Zufälle mögen eine Rolle spielen in meinem Schaffen; hier nicht. Es dauerte lange, bis mir klar wurde, wie und wo ich diese außergewöhnlich, diese wunderbare, streitbare Stadt packen kann. Sinnbild für kulturelle Blüte, infernalische Zerstörung, ein der Halbwahrheiten verdächtiger historischer Diskurs und mediale Manipulation bis in unsere Tage - diesen Themen widme ich mich unter anderem in den Ebenen des „Leibgerücht“. Stadtbild mitprägend, figürlich und allegorisch - In der Fama fand ich die perfekte Metapher für meine ganz eigene Projektion.
Eine Projektion, die ästhetisch fasziniert und inhaltlich verstört.
Ein Weib halt, das nicht leicht zu fassen ist, als Allegorie des Ruhmes, aber ebenso des Gerüchtes. Nicht glatte Lüge und doch alles andere als die Wahrheit.
Weil diese ja das erste Opfer eines jeden Krieges sei, geht es gleichermaßen um die großen und kleinen geheimdienstlichen, die medialen Lügen, getarnt als vermeintliche Tatsachen, unwiderlegbare Beweise, angeblich handfeste Indizien oder gesicherte Erkenntnisse.
Welche filmreifen geopolitischen Dramen durften wir in den letzten Jahrzehnten erleben! Es sind die selben Akteure, die selben Drehbücher, begleitet von der selben Propaganda, ohne dass der Wahnsinn ein Ende nimmt. Aufgrund unbewiesener Behauptungen werden gerade weltweit Diplomaten ausgewiesen. Und wenn diese schweigen, sprechen bekanntlich die Kanonen. Da ist die altbekannte eigentlich nur noch eine rhetorische Frage: Qui bono?“
… die du ja auch im „Leibgerücht“ stellst. Wie in Deinen anderen Werken ist die Figur, die der Fama hier, als eine Art Seekarte angelegt - mit Inseln, Strömungspfeile, Ankerplätzen, schraffierten Untiefen und mit Zahlen. Mit ungewöhnlich vielen Zahlen diesmal, selbst für eine so große Karte. Sind das Tiefenangaben?
Hier kommt ihnen tatsächlich ausnahmsweise eine andere Funktion zu, eine Statistik sichtbar machende.
Wer sich mit der Zerstörung Dresdens im Februar 1945 beschäftigt, kommt an der bis heute andauernden Diskussion um die Opferzahlen kaum vorbei. 2016, als ich konzentriert recherchierte, war reichlich Material im Internet auffindbar. Vieles davon existiert bis heute.
Schaut man sich Originalaufnahmen an, Filme, aufgenommen aus den angreifenden Flugzeugen, ist es nahezu unvorstellbar, dass „dort unten“, hier, wo wir heute sitzen - an der wiedererbauten Frauenkirche -, überhaupt jemand die Fastnacht überlebte, vor 73 Jahren.
Ähnlich unvorstellbar ist aber auch das streckenweise Fehlen des geschichtlichen Wissens in den uns nachfolgenden Generationen. Als ich einer Dresdner Abiturientin letzte Woche im Internet Aufnahmen des Angriffs und Fotos des zerstörten Dresden zeigte, erntete ich ungläubiges Staunen. Sie hatte so etwas offenbar bislang nicht gesehen und nur eine Art Anschlag in Erinnerung.
Es ist nicht meine erste Erfahrung dieser Art. Unsere Jugend kennt Internet-Vergleichsportale und Online-Warenhäuser, immer weniger aber die jüngste Geschichte, teilweise nicht einmal mehr die der eigenen Stadt.
Wissen wird immer mehr digitalisiert, immer mehr ausgelagert und das nächste politisch korrekte „update“ ist nie weit. Welche Informationen werden letztlich überhaupt noch auffindbar sein und welchen Wahrheitsgehalt werden diese haben? Die Lüge - auch durch Weglassen - ist allgegenwärtig und bis jetzt ist das Aussprechen der Wahrheit kein revolutionärer Akt. Doch wer dabei die falschen Worte wählt, darf schon nicht mehr mitspielen. Unsere Sprache wird heute in einer Weise verzerrt und verbogen, wie ich es nicht mal ansatzweise unter den Kommunisten erlebt habe.
Eine große Verschwörung? Orwells „Neusprech“ und sein „Wahrheitsministerium“ lassen grüßen. Und: „Kauft gedruckte Bücher!“ Geht es auch darum?
Falls es eine Verschwörung gäbe, wäre sie gewiss nicht neu. Ich tue mich zwar nicht leicht mit der Person Orwells und mit seinem Finanzier Frederic von Warburg, aus der gleichnamigen Bankiersfamilie. Aber ja, die Szenarien aus „1984“ sind nun mal im Kopf und die Zitate stehen im Raum.
Vielleicht sollten wir doch lieber „Quality Land“ von Marc-Uwe Kling hernehmen. Das konsumieren hierzulande wahrscheinlich deutlich mehr Menschen. Vermutlich als Hörbuch, denn die humorvoll angelegte Dystopie ist in fast schon perfide gut zu nennender Vertonung noch ein Stück weit witziger als das Buch.
Die Geschichte eines unangepassten Maschinenverschrotters, der einfach nur einen unverlangt zugestellten rosafarbenen Delphin-förmigen Vibrator zurückgeben will, spielt in der deutschen Variante eines Social Rating Systems, vergleichbar mit dem derzeit in China entstehenden.
Dieses System macht jedenfalls keine Fehler. Und wenn doch, dann ist man selbst der Fehler, so der gedankliche Rahmen. Der Protagonist bleibt aber anders als in Matrix nur ein Neo light. Selbst wenn er mit seiner Trinity und seinen elektromechanischen Kumpels eine Schlacht gewinnt, ändert er das System letztlich nicht. Ich konnte mich allerdings bereits bei Klings – wahrlich sehr amüsanten – Känguru-Chroniken nicht vom Verdacht der Propaganda freimachen.
Dass er die mögliche Rückwirkung von Algorithmen auf uns Menschen gleichzeitig kritisch thematisiert, rechne ich ihm aber hoch an.
„Schöne neue Welt“, „Fahrenheit 457“, „Equilibrium“, „1984“, „Matrix“, „Quality Land“ - in all diesen Werken geht es um den Kampf paternalistischer bis totalitärer Systeme gegen die Natur des Menschen. Die Schlachtfelder heißen Geschichte, Sprache, Empathie, gesunder Menschenverstand.
Und auch deshalb: Ja! Kauft und lest gedruckte Bücher, Schriften besser! Sie sind schon in naher Zukunft unersetzliche, unbezahlbare Schätze. Spätestens dann, wenn kaum jemand mehr ohne Computer, Pad oder Smartphone überhaupt eine leserliche Nachricht, eine unmanipulierbare Aufzeichnung von Hand verfassen kann.
Die digitale Welt scheint aber ganz offensichtlich für Dich trotzdem ihre Daseinsberechtigung zu haben. Wenn ich es richtig verstanden habe, nutzt Du ihre Vorteile ja ausgiebig für Deine Recherchen.
Natürlich, ich schätze und nutze das Internet mit all seinen Angeboten sogar sehr intensiv, betrachte es jedoch lediglich als ergänzendes Angebot. Letztlich ist das alles eine Frage des Umgangs damit.
Amtlichen Quellen sind deshalb von besonderer Bedeutung. Dresden hat hier viel geleistet und bietet sehr gute Recherchemöglichkeiten zu seiner Geschichte.
Nehmen wir den wirklich hervorragenden Themenstadtplan der sächsischen Landeshauptstadt. Wechselt man dort in der historischen Kartenansicht von 1941 auf die nächste verfügbare von 1947, sieht man eines sofort: Die Häuser in der Innenstadt existieren nicht mehr. Als hätte sie jemand einfach vom Stadtplan radiert. Altstadt, Seevorstadt und Pirnaische Vorstadt verzeichnen fast nur noch die Ruinen der wirklich massiven, monumentalen barocken bis klassizistischen Bauten, einschließlich der Reste der Frauenkirche, vor der dann bis 1960 erst einmal die Schafe weideten.
Ebenso fehlt in den angrenzenden Teilen der Wilsdruffer Vorstadt, Südvorstadt und Johannstadt ein Großteil der Bebauung.
Allein 28 km² Fläche sollen damals vollständig zerstört worden sein in der Innenstadt von Dresden. Durchaus vorstellbar bei heutigen 329 km², selbst angesichts der späteren Eingemeindungen.
Ich will außerdem Schätzungen glauben, nach denen die Stadt neben den rund 600 Tausend Einwohnern im Februar 1945 mindestens ebenso viele Schutzsuchende zusätzlich beherbergte. Verwundete und Flüchtende vor der heranrückenden Roten Armee, die lediglich etwa 100 km entfernt stand. 1,2 Millionen Menschen seien es demnach in Dresden gewesen, am Abend des 13. Februar 1945.
Die Zahlen … Je eine „Tiefenangabe“ also für rund Eintausend dieser Menschen, durchnummeriert bis 1.200. Nach längerem Hinsehen fällt auf, dass einige wenige dieser Zahlen rot sind…
24 der 1.200, um genau zu sein. Sie stehen für 24.000 der laut Historikerkommission möglichen Toten, die ich hier zunächst einmal sichtbar mache. Die Zuschauerplätze im neuen Dynamo-Stadion hätten sie übrigens zu etwa drei Vierteln gefüllt.
24 geteilt durch 1.200: Das wären 2 % der Bevölkerung, die während der vier Angriffswellen innerhalb von 37 Stunden ums Leben kamen ...
Und 98 % der Menschen innerhalb der Stadt haben - in diesem Szenario - überlebt. Wobei, wie gesagt, die Zahl der Flüchtlinge nur geschätzt ist. Ließe man ihre Zahl einmal komplett außen vor, hätten immer noch rund 96 % überlebt.
Gleichzeitig wurde etwa ein Drittel aller Wohnungen in Dresden vollständig zerstört, weitere teils schwer beschädigt und nur etwa ein Fünftel blieb unversehrt.
Auch das sagt uns die Statistik. Dresden war ja kein Einzelfall, fast alle größeren deutschen Städte wurden mehr oder minder stark zerstört. Die Pforzheimer hatten übrigens eine Woche später, am 21.2.1945, weitaus weniger Glück als die Dresdener.
Die Dresdner mussten vier, fünf Wellen über sich ergehen lassen. Immer wieder wurde in die Rettungsarbeiten hinein gebombt. Die Lufttemperatur betrug zeitweise bis zu 1.400°. Celsius.
In Pforzheim, während der lediglich 22minütigen Bombardierung nach dem gleichen Muster - Sprengbomben, gefolgt von Brandbomben - sollen 17,5 Tausend der 79 Tausend Einwohner umgekommen sein, mehr als 22 %.
Andere Quellen, andere Zahlen … Laut Onlineausgabe der „Welt“ vom 21.2.2015 - also genau 70 Jahre nach der Bombardierung - starb innerhalb von nur 16 Minuten jeder Dritte in Pforzheim. 260 Hektar sollen total zerstört worden sein. 7.630 Tote seien registriert worden, während weitere 12.647 als vermisst galten. 260 Hektar sind übrigens gerade einmal 2,6 km². Da will man nicht ernsthaft drüber nachdenken.
[Anm.: Absatz geändert. Auf die ursprünglich wörtlich zitierte Quelle wird nun lediglich inhaltlich Bezug genommen. Der folgende Link wurde nachträglich ergänzt.]
https://www.welt.de/geschichte/zweiter-weltkrieg/article137691798/Binnen-16-Minuten-starb-jeder-Dritte-in-Pforzheim.html
Schwer zu fassen, das alles …. Für viele kam der Krieg ja gerechterweise dorthin zurück, wo er seinen Ausgang nahm. Spielt diese Frage ebenfalls eine Rolle?
Man muss wohl den weltberühmten jüdischen Geiger Lord Yehudi Menuhin zum Vater haben, um die deutsche Weltkriegs-Schuld ungestraft öffentlich in Zweifel ziehen zu dürfen.
„Tell the truth, shame the devil“ („Wahrheit sagen, Teufel jagen“) heißt das Aufsehen erregende Buch seines Sohnes Gerard, in dem dieser eine vollkommen andere Art der Geschichtsschreibung propagiert, als wir sie kennen.
Du folgst „denen, die die Wahrheit suchen“ und meidest „jene, die sie fanden.“ ?
Wohl eher: „Glaubt den Schriften nicht, glaubt den Lehrern nicht, glaubt auch mir nicht. Glaubt nur das, was ihr selbst sorgfältig geprüft und als euch selbst und zum Wohle dienend anerkannt habt.“
Denn falls JFK Recht hatte, sind wir ständig in Gefahr, belogen zu werden: „Egal wie groß die Lüge ist: Man wiederhole sie nur oft genug, und die Massen werden sie für die Wahrheit halten.”
Es verstört mich übrigens sehr, solches sinngemäß unter anderem auch bei Hitler und Brecht gelesen zu haben.
Buddha, Kennedy, Hitler und Brecht – diese illustre Runde bringt viel Stoff mit für spannende längere Gespräche.
Ich bin bereits voller Vorfreude. Zunächst aber noch ein paar letzte trockene Zahlen: Für Ende Mai 1945 verzeichnet die damalige Staatliche Zentralverwaltung für Statistik in Dresden knapp 400.000 Einwohner, während die amtlich Schätzung für den April 1945 noch auf etwas weniger als 370.000 gekommen war.
Unsere geflügelte Göttin hatte die Zerstörung jedenfalls irgendwie überstanden.
Sie weist im Original nach links. Wieso richtet sich Deine Fama mit ihrer Posaune nach rechts?
Wir sind es gewohnt von links nach rechts zu lesen und zu erfassen. Auch unsere Zeitachsen verlaufen von links nach rechts, vom Vergangenen zum Künftigen. Dem verleihe ich Ausdruck in einer nach rechts hin aufstrebenden Komposition. Ich bin nun mal ein unverbesserlicher Optimist.
„Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“ lese ich da … Über manches im Bild wäre noch zu reden. Zitate, Orte, Songtexte, Flüssigkeiten, eine sonderbare Legende …
Wie viele meiner neueren Werke trägt auch dieses die Chronik seiner Entstehung in sich: Bezüge, Metaphern, Fragen, Persönliches, die gehörte Musik und die konsumierten Getränke, die Liste der verwendeten Zutaten, wie Tusche, Rotwein, Blut etwa oder Worcestersauce. Dresdner Art von Exzellent natürlich.
Das klingt nach Alchemie. Gut, damit erklärt sich dann also BRh+. Das Werk ist demnach fälschungssicher … Lassen wir dem Betrachter noch etwas Raum für eigene spannende Wahrnehmungen und für reichlich Entdeckerfreude. Herzlichen Dank für das Gespräch.
Ich danke für das Interesse und freue mich sehr auf den weiteren Gedankenaustausch.
Mit Bill d'Amacha sprach Katharina Brune im März 2018 über sein Werk „Leibgerücht“ bei Dresden.Gold an der Frauenkirche. www.Dresden.Gold